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Ethische Werte bei Storm : Was tritt an die Stelle einer gottbezogenen Sittlichkeit? Brockhaus, Henrich Ernst Rudolf

Abstract

In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, wie der Dichter der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geistig in eine Isolierung gerät, die es ihm nicht mehr erlaubt, sittliche Werte der Vergangenheit unbesehen hinzunehmen; er muβ sie vielmehr untersuchen und sich gegebenenfalls neue Werte schaffen. Für Storm bedeutet dies die bewuβte Lösung vom christlichen Glauben, der in einigen Novellen als Zeichen menschlicher Unreife bewertet und überwunden wird. An die Stelle der verlorenen göttlichen Liebe tritt die menschliche, an die Stelle der menschlichen Abhängigkeit von Gott tritt die Suche nach dem Mitmenschen, die gegenseitige Abhängigkeit durch das Band der Liebe. Die Ehe verleiht einem solchen Bund Ausschlieβlichkeit, Dauer und Tiefe; sie schenkt dem Menschen einen Halt im Leben. Nur auf diesem Fundament kann sich die Familie gründen und erhalten. In der Familie findet der Einzelne den zeitlichen Anschluβ an Vergangenheit und Zukunft, reicht damit über die Begrenzung der eigenen Lebenszeit hinaus. Hat der Mensch im Rahmen der Ehe und der Familie einen organisch gegründeten Platz gefunden, dann darf und soll er sich im Geist der Nächstenliebe seiner Umwelt tätig annehmen. Hier, wie in der Ehe, reift der Mensch zur vollwertigen Persönlichkeit, wenn er sich ohne Vorbehalt dem andern gibt, auch wenn die Umwelt nicht zu dem gleichen Dienst bereit ist. Storm gibt für das sittliche Bemühen des Menschen, für dessen Suchen nach einem organisch-harmonisch bestimmten Platz nur einen Grund: Alles geschieht, damit das Leben an sich erhalten bleibe und gefördert werde. Die Ewigkeit ist dem Menschen verlorengegangen, da heiβt es, die einem zur Verfügung stehende Lebensspanne auszuweiten, einmal durch den Kontakt zura Mitmenschen, zum an-deren durch die Verbindung im Rahmen der Familie zur Vergangenheit und zur Zukunft. Das Leben an sich wird zum höchsten sittlichen Wert, alle anderen Werte, einschlieβlich der Liebe, finden nur in ihrer lebenserhaltenden Funktion einen positiv-ethischen Gehalt.

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